Dienstag, 13. Mai 2008

Entscheidung mit Bedenken

Es war nicht einfach eine Entscheidung zu treffen. Woher sollten wir auch wissen ob wir es bis Anfang Mai nach Perth schaffen würden. Es kamen damals nur zwei Orte mit internationalem Flughafen in Frage: Perth oder Melbourne. Diese liegen jedoch circa dreitausend Kilometer voneinander entfernt. Und erfahrungsgemäß ist eine solche Strecke mit unserem Auto wie Russisch Roulette. Somit beschwichtigten wir Jessie und Johnny anfangs nur mit ungenauen Angaben. Zwar hatten sie dadurch wahrscheinlich das Gefühl wir hätten kein Interesse an ihrem Besuch. Aber dem war nicht so, ganz im Gegenteil. Wir freuten uns riesig auf ein Wiedersehen. Es war halt schlicht unmöglich, in unserer mechanischen Verfassung und der Größe Australiens, bereits Mitte Februar eine präzise Angabe zu machen, wo wir uns Anfang Mai befinden würden.
Zu dem Zeitpunkt unserer Entscheidung mit dem kaputten Zylinderkopf durch das Nullarbor nach Western Australien zu fahren jedoch, erledigte sich dieses kleine Problem von selbst. Damals standen wir bekanntlich vor der Wahl entweder in der Provinz Victoria nach Arbeit zu suchen, was zu dieser Zeit fast aussichtslos gewesen war, oder mit kaputtem Motor durch eines der größten Niemandslande Australiens zu tuckern. Da wir uns halt für die wahrscheinlich aufregendste Autofahrt unseres Lebens entschieden hatten, waren wir zumindest in der Lage gewesen Jessie und Johnny eine konkrete Antwort zu geben: „Wir treffen uns in Perth“.

Wir

Wir bewältigten die circa zweitausend Kilometer durch das Nullarbor mit unserem defekten Auto. Auch fanden wir Arbeit, was sich nach Ankunft in Western Australien als nicht sehr einfach erwiesen hatte. Und zudem hatten wir es geschafft nach nur zwei Wochen Apfelernte das Auto zu reparieren und uns genügend Taschengeld für unseren Besuch zu ersparen. Wir waren stolz darauf alles gemeistert zu haben.
So standen wir abends, am fünften Mai, auf dem Flughafen von Perth und warteten auf die Ankunft unserer japanischen Freunde Jessie und Johnny. Und wir konnten es nicht glauben, dass seit unserer letzten Begegnung schon drei Jahre verstrichen waren.
Wir hatten Jessie vor über vier Jahren, während unseres ersten Australienaufenthaltes, kennen gelernt. Wir hatten beinahe fünf Monate zusammen in einer Wohngemeinschaft in Cairns gelebt. Es war eine fantastische Zeit gewesen und wir hielten über all die Jahre ständigen Kontakt. Ihr richtiger Name schreibt sich Yasue und gesprochen wird er so ungefähr „Jassuhae“. Ich weiß es noch wie heute, als ich ihr das erste Mal gegenüber stand und versucht hatte ihren Namen richtig auszusprechen. Immer und immer wieder, jedoch ohne Erfolg. Auch Anne gelang es nicht. Wir sprachen ihren Namen so falsch aus, dass wir sie jedes Mal „Prostituierte“ nannten, wie sie uns damals erklärte, und was sie natürlich als nicht besonders lustig empfand. Wir beschlossen danach kurzer Hand sie Jessie zu nennen. Sie mochte den Namen.

Perth-Skyline Perth Skyline

Johnny lernten wir dann vor circa drei Jahren in Japan kennen. Ein lustiger Typ.
Wir waren zu jener Zeit zu ihrer Hochzeit eingeladen, was sich für uns als eine unvergessliche Erfahrung offenbarte. Die gesamte Zeit mit ihnen war prägend gewesen. Den englischen Namen „Johnny“ hatte er sich damals selbst gegeben. Ich glaube aus Mitleid zu uns. Wir konnten seinen japanischen Namen „Ryuuta“ (gesprochen: „Dljutha“) zwar vernünftig aussprechen, sahen aber dabei aus, als würden uns unsere Zungen aus den Gesichtern schlenzen. Außerdem dauerte es so ungefähr zwanzig Sekunden bis er merkte, dass wir ihn ansprachen. So gebot er uns während eines erneuten Versuches ihn anzusprechen Einhalt, indem er seine Hand zu einem Stoppzeichen formte, danach mit dem Zeigefinger auf seine Brust tippte und sagte: „Johnny!“. So bekam er seinen Namen. Er war damals großer John Bon Jovi Fan und ich denke er empfand sogar einen gewissen Stolz diesen neuen Namen zu tragen.

Perth-City Perth City

Der Flughafen war ziemlich beschäftigt zu dieser späten Stunde. Hunderte von Menschen bewegten sich zielstrebig durch die Halle. Aber nicht alle waren in Bewegung. Wir sahen einige Reisende wie sie vergeblich versuchten, es sich auf einer der harten Sitzbänke gemütlich zu machen um zu schlafen. Diese waren jedoch viel zu klein und glatt und wir mussten lachen als wir beobachteten, wie sie kontinuierlich versuchten sich in eine bequeme Position zu drängeln. Ein dicker Mann hatte dennoch seine Schlafstellung gefunden. Er lehnte sich einfach zusätzlich an seine kleine Frau. Er hatte seinen Kopf auf ihre rechte Schulter gelegt und sein schwerer Körper drängte sie soweit nach Links, dass sie, verglichen zur Sitzbank, bereits einen fünfundvierzig Grad Winkel formte, wodurch es aber für den Dicken immer bequemer wurde.
Dann wurden wir Zeuge, wie ungefähr zwanzig Polizisten und Flughafenangestellte eine alte, abgewetzte Reisetasche umzingelten. Sie war anscheinend gefährlich und von ihrem Besitzer verlassen worden und die Ordnungshüter taten so, als hätte sich Osama Bin Laden persönlich in ihr verkrochen. Sie deuteten allen Passagieren per Handzeichen der Tasche nicht näher zu kommen, während sie eine Absperrung aus schwarzgelbem Plastikband zogen. Die Reisenden kümmerte dieser alte Lederbeutel allerdings mächtig wenig. Niemand zeigte irgendeine Reaktion, während die Gesetzeshüter weiterhin anhand verschiedener Gesten vor der gefährlichen Tasche warnten. Es war irgendwie ein lustiges Schauspiel; denn alle Leute gingen völlig gelassen ihrem normalen Trott nach, während es innerhalb der Absperrung aussah, als drehten sie eine Szene aus „Stirb Langsam 2“.
Wir standen hinter der schwarzgelben Markierung und konnten es kaum glauben welch ein Schauspiel wir hier des Nachts geboten bekamen. Da war nicht nur die kleine Frau, welche inzwischen vergeblich versuchte, sich aus ihrer Position zu befreien indem sie mit ihrer linken Hand gleichmäßig gegen den großen Schädel ihres Mannes hämmerte um ihn zu wecken, sondern auch ein Antibombenkommando, welches nun zu dritt vorsichtig die Tasche öffnete.
Was passiert denn ständig auf unseren Flugplätzen? „Ziehen Sie bitte ihre Schuhe aus.“, „Der Nagelknipser könnte eine tödliche Waffe sein und darf nicht an Bord.“, „Der Deoroller muss in eine extra Plastiktüte verpackt sein, zusammen mit der Zahncreme.“, „Nehmen sie bitte ihre Kamera auseinander, da könnte eine Bombe drin sein.“ und, und, und. Dazu solch ein Drama wegen einer Tasche. Wieso nur auf Flughäfen? Bei unserer letzten Fährfahrt nach Norwegen hätten wir eine ganze Wagenladung voller TNT auf der Fähre platzieren können, denn es kontrollierte nicht einmal jemand unsere Reisepässe.

Wir-Vier Wir Vier

Zu dem Zeitpunkt jedenfalls, als die kleine Frau sich aus ihrer schmerzhaften Lage befreit hatte und das Bombenkommando die stinkenden Socken wieder zurück in die Tasche legten und einen falschen Alarm verkündeten, kamen Jessie und Johnny durch die Schiebetür. Natürlich waren wir aufgeregt, hatten wir doch drei verstrichene Jahre wieder aufzuholen. Dazu blieben uns allerdings nur fünf Tage mit den beiden, denn danach ging ihre Reise schon weiter nach Japan. Sie hatten gerade ihren einjährigen Aufenthalt in Neuseeland beendet und nutzten somit den Heimflug für ein Wiedersehen in Australien. Für Johnny war es der erste Besuch „downunder“ und Anne hatte aus diesem Grund schon eine ellenlange Liste mit Sehenswürdigkeiten aufgestellt, welche wir aufsuchen könnten, um besonders ihm „Australien“ ein kleines Stückchen näher zu bringen.
Aber schon nach der ersten Nacht, wir hatten uns eine kleine Hütte auf einem Zeltplatz in der Nähe des Flughafens gemietet, stellten wir gemeinsam fest, dass eigentlich gar kein besonderes Interesse an stundenlangen Autofahrten bestand, nur um einige angeblichen Attraktionen zu besichtigen, diese lagen nämlich zig Kilometer voneinander entfernt. Wir wollten einfach nur beisammen sein. Es gab so viel zu berichten, da blieb keine Zeit für stressige Touren und die Sehenswürdigkeiten schienen auf einem Mal bedeutungslos.

Jessie-und-Johnny-kochen Boys Cook Best

So kauften wir Essen für die uns verbliebenen Tage, fuhren südlich von Perth ans Wasser, mieteten uns erneut einen Bungalow auf einem Zeltplatz und genossen unsere Zeit zusammen. Es wurde viel gekocht. Anne und ich bekamen von den beiden wieder köstlichstes, japanisches Essen vorgesetzt und wir versuchten es ihrerseits mit einer deutschen Diät. Ordentlich Butter, damit sie groß und fett werden, wie wir ihnen sagten. Somit verschwand ihr Interesse an der deutschen Küche schnell und in den darauf folgenden Mahlzeiten kochten wir gemeinsam aufwendige asiatische Köstlichkeiten.
Ansonsten verbrachten wir viel Zeit am Strand. Die beiden berichteten viel über ihren Aufenthalt in Neuseeland und wir erzählten unter anderem von unserer Reise durch das Nullarbor, den vielen anderen Autopannen sowie von der unglaublich schmerzhaften Erfahrung unserer chinesischen Vollkontaktmassage.
Aber wir waren noch nicht einmal bei der Hälfte unserer Geschichten, da standen wir auch schon wieder auf dem Flughafen um Jessie und Johnny zu verabschieden. Wir konnten es nicht glauben, wie schnell die fünf Tage verstrichen waren und es entstand ein rege Diskussion über ein baldiges Wiedersehen. Wann und wo, dass müssen wir einfach abwarten.

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Wellenbad

Wir standen noch am Fenster der Flughafenhalle und beobachteten den Flieger bis er aus unserem Blickfeld verschwand. Jessie und Johnny waren auf dem Weg nach Japan. Unser Urlaub war also vorüber und wir sahen uns abermals mit bekannten Problemen konfrontiert: keine Arbeit, ein Auto was nicht hundertprozentig funktionierte und einen nur dreistelligen Betrag auf dem Konto, welcher uns mit Sicherheit nicht allzu lange über Wasser halten würde. Wir brauchten Arbeit, und zwar schnell, hatten aber infolgedessen eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Zurück nach Manjimup, zur Apfelernte, oder in den Norden Australiens fahren.
Die Arbeit in Manjimup war uns sicher, hätte allerdings nicht mehr viele Wochen in Anspruch genommen. Außerdem begann der Winter, was unser Leben im Bus deutlich erschweren würde, da es im Süden Australiens zu dieser Jahreszeit ziemlich kalt werden kann. Zusätzlich hatten wir langsam das Gefühl, uns liefe die Zeit aus. Genau fünf Monate waren uns geblieben und in diesem Zeitraum die gesamte West- und Nordküste zu bewältigen, klang nach einer ziemlich großen Herausforderung. Wir hatten uns nämlich das Ziel gesetzt in Cairns, also im Nordosten Australiens, unsere Reise zu beenden. Ob wir uns diesen Wunsch jedoch erfüllen könnten, war in jenem Augenblick wirklich nicht vorhersehbar. Eine weitere Autoreparatur oder einfach nicht genügend Arbeit, könnte unserem Australientrip ein vorzeitiges Ende bereiten.
Es sprach also alles dafür, nicht zurück nach Manjimup zu fahren und nochmals auf der Apfelplantage zu arbeiten. Trotzdem kamen Zweifel in uns auf. Der nächste Ort, wo es uns vielleicht möglich wäre, Arbeit zu finden, heißt Carnarvon und liegt so ungefähr eintausend Kilometer von Perth entfernt. Es gibt dort viele Obst- und Gemüsefarmen und ist somit einer der wenigen Anlaufspunkte für arbeitsuchende Backpacker in Western Australien. Würden wir aber in Carnarvon keine Arbeit bekommen, wäre die nächste Möglichkeit erst in Broome. Die Entfernung zwischen Perth und Broome jedoch beträgt mehr als zweitausendvierhundert Kilometer. Uns wurde auf einem Mal die Tragweite eines solchen Unterfangens bewusst. So sah es aus in Western Australien: Wenig Orte, somit kaum Arbeit und Entfernungen zwischen Orten, welche für uns, als Deutsche oder gar als Europäer, nicht vorstellbar waren. Wir erinnerten uns an unsere erste Australienreise. Damals kamen wir aus dem Norden Richtung Süden gefahren. Wir hatten zu jener Zeit vorab in Darwin bei der Mangoernte gearbeitet, dort zwar wegen Streitigkeiten mit dem Boss unseren Job gekündigt, aber in nur drei Wochen dennoch genügend Geld gespart, um ohne größere Probleme die West- und Südküste bis nach Melbourne zu bereisen. Die enorme Strecke durch pure Natur war damals jedenfalls kein Hindernis gewesen, war unser alter VW Bus „Mo“ doch sehr zuverlässig. Deshalb gingen wir die gesamte Westküste seinerzeit natürlich sehr gelassen an.
Dieses Mal dagegen waren wir nicht so zuversichtlich. Unser Auto war eine tickende Zeitbombe, wobei wir ständig damit rechnen müssten, dass diese platzt und unser Budget war bei Weitem nicht ausreichend, um sorglos unterwegs zu sein.
Aber entgegen all unserer Bedenken entschieden wir uns, die Fahrt in den Norden zu beginnen. Immerhin war es nicht das erste Mal für uns, vor solchen Problemen zu stehen und mit Gewissheit nicht das Letzte Mal. Wir waren langsam sicher den richtigen Entschluss getroffen zu haben. Um ehrlich zu sein kam sogar Freude in uns auf und die Aussicht auf wärmeres Wetter vertrieb selbst unsere letzten Zweifel.
Der Abschnitt „Apfelernte bei kaltem Wetter“ war folglich abgeschlossen, ein neues Kapitel konnte geschrieben werden. Wir machten uns auf.

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Das bestehende Problem mit unserem Auto konnten wir nicht beseitigen. Wir hatten es vor dem Urlaub mit Jessie und Johnny noch einmal in eine Werkstatt gebracht, aber der Mechaniker konnte beim besten Willen keinen Fehler bei unserer Benzinzufuhr finden. Er meinte, es könnte am kälteren Wetter liegen und dass weiter oben im Norden wieder alles normal funktionieren würde. Für uns klang das ausreichend. Es war natürlich beängstigend auf diese Weise mit dem Auto in den Norden zu starten, aber was sollten wir tun. Es war ziemlich klar, dass das gelegentliche Stottern und Verlangsamen des Motors mit der Benzinzufuhr zu tun hatte, aber da der Mechaniker kein eindeutiges Makel gefunden hatte, schlossen wir mit diesem Thema ab. Wir waren es leid und hofften einfach auf das Beste.
So verließen wir Perth und kamen wieder langsam in unseren gemeinsamen Reisealltag hinein. Wir waren sehr zuversichtlich was die Arbeitsuche in Carnarvon betraf. Hatten wir doch auch bei anderen Backpackern in Erfahrung bringen können, dass es wirklich außer Frage stand, bei solch einer Masse an Farmen in dieser Region, Beschäftigung zu finden. Voller Energie und Abenteuerlust fuhren wir gen Norden. Das Wetter wurde immer besser und wir konnten es kaum abwarten uns all die schöne Orte auf dem Weg nach Carnarvon anzuschauen. Danach würden wir uns dort Arbeit suchen, unser Budget auffrischen, um folglich unsere verbliebene Zeit in Australien sorgenfrei zu genießen.
Es wäre zu schön gewesen, hätte sich dieser Wunsch erfüllt.

Sonnenuntergang

Ihr Lieben, vielen Dank wieder für Euer Interesse. Bis zum nächsten Beitrag.
Eure Anne, mit den großen Füssen & Euer Bunki, mit dem großen Kopf

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